Gedankenkram

„Reiß dich zusammen“ – Warum dieser Satz der Anfang vom Ende ist

„Reiß dich zusammen“ – Warum dieser Satz der Anfang vom Ende ist
Ein Beitrag über toxische Positivität, emotionale Unterdrückung und die fragwürdige Karriere von Kalendersprüchen auf Instagram.


„Reiß dich zusammen.“

Drei Wörter, so kurz wie ein Espresso – aber mit dem emotionalen Nachgeschmack einer halben Kindheitstherapie.
Der Satz kommt meist dann, wenn du weinst. Oder zweifelst. Oder – Gott bewahre – Gefühle zeigst. Und natürlich von Menschen, die es nur gut meinen. Spoiler: Tun sie nicht. Sie meinen es bequem.

Reiß dich zusammen“ klingt wie ein Satz aus einem schlechten Psychobuch mit 7-Euro-Titel und 90er-Cover. Mehr solcher „Ratschläge“, die dringend aus dem Verkehr gezogen gehören, findest du in meinem Artikel über Psychomythen, die wir endlich beerdigen sollten.


Willkommen in der Welt der toxischen Positivität

Toxische Positivität ist wie ein Smoothie aus rosa Glitzer, Selfie-Filtern und kompletter Realitätsverweigerung.
Sie klingt so:

„Du musst nur das Gute sehen.“
„Andere haben es schlimmer.“
„Einfach positiv denken!“

Ich weiß ja nicht, wie dein Gehirn funktioniert, aber meines lässt sich ungern von Zitaten überzeugen, die aussehen wie eine Mischung aus Pinterest und Burnout.


Was unser Gehirn denkt, wenn es sowas hört

Limbisches System: „Ah. Wir fühlen also gerade massive Angst. Oder Trauer. Oder Wut. Alarm!“
Präfrontaler Kortex: „Verstanden. Wie verarbeiten wir das?“
Toxische Umgebung: „NEIN. STOP. Hier ist ein Zitat von Paulo Coelho. Bitte sofort unterdrücken.“
Amygdala: „Ok, cool. Dann speichere ich das für den nächsten Flashback in drei Jahren auf dem Supermarktboden.“


Emotionen sind nicht das Problem. Das Unterdrücken ist es.

Sich zusammenzureißen funktioniert ungefähr so gut wie ein Loch im Regenschirm: Kurz hält’s, dann wirst du nass.
Gefühle lassen sich nicht wegmanipulieren. Sie kommen zurück. Gern nachts um 3:17 Uhr oder wenn du eigentlich nur Klopapier kaufen wolltest.


Kalendersprüche – die stille Pandemie

Instagram ist voll davon.
„Jeder Tag ist ein Geschenk.“ (Ja. Aber ich hätte gern den Kassenzettel.)
„Du bist stärker als du denkst.“ (Ich wollte aber gerade schwach sein. Danke.)
„Lächle. Es könnte schlimmer kommen.“ (Ich hab gelächelt. Es wurde schlimmer.)

Diese Pseudo-Weisheiten funktionieren wie Pflaster auf offene Wunden – sehen nett aus, aber brennen wie Hölle und lösen nichts.


Was wäre stattdessen hilfreich?

– Raum für Emotionen.
– Menschen, die sagen: „Ich sehe dich.“ Statt: „Reiß dich zusammen.“
– Und vielleicht… ein bisschen mehr echte Verbindung als perfekt gebrühter Matcha mit Affirmation.


Fazit:

„Reiß dich zusammen“ ist kein Ratschlag. Es ist ein stilles „Ich kann mit deiner Menschlichkeit grad nicht umgehen.“
Und wenn du das nächste Mal mit einem Gefühl dastehst, das größer ist als dein mentaler Instagram-Filter, sag dir selbst:

„Du darfst fühlen. Auch wenn’s anderen nicht gefällt.“
Und dann: Atmen. Nicht scrollen.

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